Antimikrobielle Oberflächen

Expert:innen: Christoph Kolano (INEOS), Francesco Stellacci (EPFL)

Antimikrobielle Materialien können mittel- bis langfristig klassische Desinfektionsmittel und in gewissen Anwendungen Antibiotika ersetzen, dazu beitragen, die Entstehung von multiresistenten Keimen zu verhindern und eine physikalisch-chemische Verteidigungslinie gegen die unerwünschte Ausbreitung von Mikroorganismen darstellen. Um diese Ziele zu erreichen und gesellschaftlich akzeptiert zu bleiben, müssen antimikrobielle Materialien nachhaltig und günstig werden. Daraus ergeben sich grosse Chancen für die Schweizer Medtech- und Materialindustrie, aber auch für die Gesellschaft.

Bild: Freudenberg BioPerformance, Unsplash

Definition

Der Begriff «antimikrobiell» umfasst alle Wirkungsmechanismen, deren Anwendung Bakterien, Pilze, Viren und andere Mikroorganismen abtötet, in ihrem Wachstum hemmt oder einer Besiedlung von Oberflächen durch diese entgegengewirkt. Antimikrobielle Oberflächen verfügen über eine oder mehrere der genannten Eigenschaften, wobei deren Wirkung auf die Oberfläche begrenzt ist.

Oberflächen können auf drei Arten antimikrobiell sein:

  1. Das verwendete Material ist intrinsisch antimikrobiell und verhindert die Besiedlung oder zerstört bereits angesiedelte Mikroorganismen. Die Basis sind Proteinstrukturen auf der Oberfläche, die mit den Mikroorganismen nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip interagieren und diese irreversibel zerstören.
  2. Das verwendete Material setzt Substanzen frei, die Mikroorganismen zerstören oder die Besiedlung verhindern. Am häufigsten werden Silberionen oder quaternisierte Ammoniumverbindungen, Derivate von Ammoniak mit positiver Ladung, eingesetzt.
  3. Die Oberfläche verhindert als Reaktion auf einen externen Stimulus wie Ozon oder UV-Strahlung die Besiedlung mit Mikroorganismen. Dabei wird Singulett-Sauerstoff gebildet, eine energiereiche Form des normalen Luftsauerstoffs, der oxidativ wirkt und die Mikroorganismen zerstört.

Heutige und zukünftige Anwendungen

Wer kennt ihn nicht, den Silberlöffel, den Pat:innen ihrem Patenkind in der christlichen Tradition zur Taufe schenken? Den wenigsten ist wohl bewusst, dass es sich dabei um ein antimikrobielles Produkt handelt, das das Kind sein ganzes Leben in hygienisch einwandfreiem Zustand begleiten wird.

Heute haben antimikrobielle Oberflächen in zahlreichen Industrieklassen Einzug gehalten und spielen im öffentlichen Raum eine zunehmend wichtige Rolle. Nicht mehr wegzudenken sind antimikrobielle Oberflächen bei Anwendungen im Gesundheitssystem, sei es bei chirurgischen Instrumenten oder um die Bildung von Biofilmen beispielsweise auf Kathetern zu verhindern. Diese sind heute mit Antibiotika beschichtet, was zu Resistenzbildung führen kann. Neue Verfahren versehen die Katheter mit Tröpfchen, die Silberionen enthalten und so Antibiotika überflüssig machen. Kosmetika sind dank der Zugabe von Konservierungsmitteln lange haltbar. Werden die Produkte in Verpackungen mit antimikrobieller Beschichtung geliefert, ist der Einsatz von Konservierungsmitteln nicht notwendig. Bei Kosmetika in Verpackungen mit Pumpen werden der Kopf und die Feder aus Silber gefertigt, um dasselbe Ziel zu erreichen. Der Einsatz von antimikrobiellen Materialien für Lebensmittelverpackungen spielt hingegen nur eine untergeordnete Rolle, da Lebensmittel nicht so lange haltbar sein müssen wie Kosmetika und unter Dampfsterilisation oder Schutzatmosphäre verpackt werden. Gleiches gilt für Medikamente. Eine essenzielle Rolle spielen antimikrobielle Beschichtungen in der Gastronomie bei der Desinfektion von Tischen und Menükarten, in der Schifffahrtsindustrie und allgemein bei Produkten, deren Einsatzgebiet das Wasser ist.

Die Corona-Pandemie hat uns vor Augen geführt, dass im öffentlichen Raum mehr antimikrobielle Oberflächen gefragt wären. Denkbar sind Materialien, die nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip funktionieren oder Singulett-Sauerstoff freisetzen und für Oberflächen eingesetzt werden, die zahlreiche Personen anfassen: Haltestangen und Sitze im öffentlichen Verkehr, Treppengeländer, Türgriffe oder Knöpfe in Personenaufzügen. Antimikrobielle Materialien würden so zu einer physikalisch-chemischen Verteidigungslinie im Kampf gegen die Ausbreitung von Mikroorganismen.

Chancen und Herausforderungen

Um für die Zukunft gewappnet zu sein, müssen antimikrobielle Materialien nachhaltig und günstig werden. Nur dann können sie ihr volles Potenzial entfalten, mittel- bis langfristig klassische Desinfektionsmittel und in gewissen Anwendungen Antibiotika ersetzen und dazu beitragen, die Entstehung von multiresistenten Keimen zu verhindern. Daraus ergeben sich grosse Chancen für die Grundlagenforschung. Die in der Schweiz stark vertretene Medizintechnik profitiert von antimikrobiellen Materialien, was zu einem Ansporn für die Schweizer Materialindustrie werden kann. Gelingt es der Schweizer Medtechindustrie, Druck auf die Kunststoffhersteller und -zulieferer aufzubauen, ist die Produktion von Nischenprodukten in der Schweiz denkbar.

Damit die geschilderten Anwendungen und Szenarien Realität werden, braucht es technischen Fortschritt. Eine grosse Herausforderung ist die Integration von Materialien, die Singulett-Sauerstoff produzieren, und von kleinen Tröpfchen, die Silber enthalten, in ein Polymermaterial wie Kunststoff. Der Kunststoff sollte Eigenschaften wie Flexibilität behalten und zugleich sollte die antimikrobielle Substanz nicht ausgewaschen werden – einerseits, um die Wirksamkeit beizubehalten, und andererseits, um den direkten Kontakt mit der Umwelt zu vermeiden.

Der Einsatz, aber auch die Entsorgung von antimikrobiellen Materialien müssen mit Bedacht erfolgen, um den Einfluss auf die Umwelt zu minimieren. Die Entwicklung von nachhaltigen Lösungen ist für zukünftige Anwendungen unabdingbar, insbesondere, um weiterhin auf die Akzeptanz in der Gesellschaft zählen zu können. Beim Einsatz ist zu berücksichtigen, dass antimikrobielle Materialien nicht nur die pathogenen, sondern auch die erwünschten Mikroorganismen abtöten.

In den kommenden Jahren wird der Druck von Behördenseite zunehmen, die toxischen und unspezifischen quaternisierten Ammoniumverbindungen zu ersetzen. Die Alternative liegt in Oberflächen, die ihre antimikrobielle Wirkung nach einem externen Stimulus entfalten. Hierfür sind neue Materialien gefragt, die ein teures und aufwendiges Zulassungsverfahren durchlaufen müssen. Damit Start-ups an dieser Entwicklung weiterhin teilnehmen, braucht es die Bildung eines Hubs oder Konsortiums. Die Schweiz sollte ihr Ansehen als innovativen Technologiestandort sowie den Aspekt der Swissness nutzen, um bei der Gründung eines solchen Hubs eine führende Rolle zu spielen.

Förderung

Die Akteur:innen in der Schweiz sind eher schlecht vernetzt und es fehlt der Zugang zu den Abnehmern und Konsument:innen. Eine Initiative, um den Kreis zwischen Forschung, Industrie und Konsument:innen zu schliessen, dürfte sich auszahlen. Eine Möglichkeit wäre, einmal jährlich ein Symposium nach dem Vorbild der Jahrestagung des American Cleaning Institute ACI zu veranstalten. Dieses thematisiert exklusiv Aspekte der Reinigung und Desinfektion, vernetzt die Akteur:innen und vertritt ihre Interessen.

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